Stabilisierung suchen – Nischen zur Verfügung stellen

Neulich kam ich in den Genuss eines Unterrichtsbesuchs in der 5. Klasse:

Bereits beim Betreten der Schulklasse fällt mir ein Junge auf, der seinen Kopf auf dem Tisch liegend, abwesend, übermüdet und desinteressiert erscheint. Auf meine Ansprache hin grüßt er freundlich und erklärt, dass er nicht ausreichend Schlaf bekommen und keinerlei Motivation zur Schule habe.

In der ersten Unterrichtsstunde wird Musik gelehrt. Das bedeutet für den eben beschriebenen Schüler mannigfaltige auditive sowie visuelle Reize, die es zu verarbeiten gilt, da er sich vor ihnen noch nicht ausreichend abschirmen kann. Aufgabe ist schließlich einen Trommelrhythmus synchron zu abspielenden Musik mit Drumsticks auf einem Ball zu klopfen. Eine immense Herausforderung für einen übermüdeten, auditiv sowie visuell höchst reizoffenen Jugendlichen mit Autismus. Das mit dem Trommeln kann nicht umgesetzt werden. Hier sind sowohl eine adäquate Kraftdosierung als auch eine zielführende Auge – Hand – Koordination erforderlich und das angesichts der Geräuschkulisse.. Daraufhin erfindet der Schüler die Variante “Prellen des Balles“ zum Takt. Zähneknirschend erlaubt die Lehrerin diese Variante. In einer kurzen Zeitspanne, die noch bis zur großen Pause verbleibt, werden entsprechend des Lehrplan interaktive soziale Elemente angeboten. Hier sind das kleine Konzentrationsspiele in Zweier – bis Dreier Gruppen. Die zuständige pädagogische Fachkraft schaut zu dem Schüler, er rückversichert sich über einen kurzen Blickkontakt, geht zum White Board und beginnt zu zeichnen und zu malen. Er wird ruhiger und gelassener. In der daran anschließenden Frühstückspause wirkt mein Schüler ausgeglichen und geerdet. Er antwortet auf direkte Fragen (zum ersten Mal an diesem Tag), schenkt ein soziales Lächeln.

Ein großes Dankeschön an die Lehrerin sowie die pädagogische Fachkraft!! Es ist gelungen einen Entwicklungsraum als Rückzugsnische (allein am White Board zu malen) zur Verfügung zu stellen, so dass der Schüler jetzt wieder am Geschehen (hier: am Unterricht) teilhaben kann.

Daher stellt sich sie Frage: Was bedeutet Stabilisierung? Stabilisierung ist eine Strategie zur Bewältigung von Stressmomenten. Diese Strategien sehen höchst individuell aus. Sie sind für Menschen mit Autismus immens wichtig, um ihren Alltag gestalten zu können. Denn bei Menschen mit Autismus kommen neben allgemeinen Stressauslösern, solche hinzu die für neurotypische Menschen keine so große Belastung darstellen (s. hier Musik hören, soziale Herausforderung plus komplexe Aufgabenstellung).

Fachkräfte, die sich die Philosophie des Low Arousal Ansatzes angenommen haben, würden an dieser Stelle nach der „grünen Liste“ fragen. Pädagogische Mitarbeiter:innen, die analog zu den Konzepten von Mona Delahooke, arbeiten, würden gemeinsam mit ihren Klient:innen überlegen, wie sie wieder auf den „grünen Pfad“ gelangen können. Allen gemein ist eine Ausdrucksform zur Entstressung zu finden!

Der oben benannte Schüler malt an einem Rückzugsort, bleibt dabei im sozialen Geschehen (Klassenraum), Dietmar Zöllner hat herausgefunden, dass er mit stark gewürzten Speisen, seinen Geschmack überreizen und damit akustische und visuelle Reize abschalten Kann (s.a. Zöllner 2006, S. 76). Willey hat eine andere Möglichkeit für sich entdeckt. Quasi einen externen Filter, um die Reizüberflutung zu reduzieren. „Legen Sie sich Ihre Hände vor das Gesicht, dass Sie nur noch die Dinge in der Gesichtsmitte wahrnehmen. Versuchen sie alles aus Ihrem peripheren Gesichtsfeld zu ignorieren.“(Willey, 2003; S.189   ). Auch Klassiker wie Eiswürfel lutschen, eine Rückzugsnische in der Natur finden, oder Reize durch das Tragen einer Kapuze abzuschirmen dienen zur Stabilisierung. Hier gibt es viele verschiedene individuelle Möglichkeiten.

Welche individuellen Strategien kennen Sie und empfinden Sie als hilfreich?

2 Gedanken zu „Stabilisierung suchen – Nischen zur Verfügung stellen“

  1. Meine individuellen Strategien sind alle im Kern darauf ausgelegt, mich sozial an einem Ort zu isolieren, den ich mir so zurecht lege, dass ich
    1. ungestört arbeiten kann (immer gleiches Licht, alles liegt am selben Ort, alle (Arbeits-) Flächen sind möglichst leer, keine laute Musik von außen, keine Stimmen von außen, kein sozialer Druck (ich werde nicht von außen ungeplant unterbrochen), keine lauten Uhren).
    2. freie Sitzflächen habe, die so ausgerichtet sind, dass ich nicht schräg ins Helle / nach draußen gucken muss.
    3. Getränkeflaschen so zur Verfügung stehen, dass ich den Ort nicht verlassen muss.

    Soziale Interaktionen sind dann ein definiertes Verlassen des Ortes / Stürzen ins Chaos für eine definitive Zeit (immer wissen, wie spät es ist). Aktives Stimming betreibe ich selten. Auch lange Haare helfen zwar beim Fokussieren des Blickfeldes, können aber auch durch Wind selbst zum Stressor werden. Wenn es mir zu viel wird, schalte ich entweder ab und bin dann „müde“ für Außenstehende. Oder ich verlasse den Ort, „weil ich auf Toilette muss“. Zusätzlich hilft es mir, wenn ich einschätzen kann, wie reizintensiv ein Ort ist. Da sind reizintensive Orte nicht das Problem sondern ungeplante Wechsel.

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  2. Hallo Jan!
    Herzlichen Dank für Deinen konstruktiven Beitrag. Er regt zum Nachdenken an und bietet auch Möglichkeiten für andere Betroffene. Was Dir gut tut, darf auch anderen eine Unterstützung sein. Daher freut es uns, dass Du Deine Erfahrungen mitteilst und so zur Verfügung stellst!!

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