So können Autisten auf dem Arbeitsmarkt Fuß fassen

Tom Harrendorf interviewt Experte Michael Schmitz

Michael Schmitz

Sehr viele Autisten haben große Probleme, sich auf dem Arbeitsmarkt zu integrieren – insbesondere auf dem ersten Arbeitsmarkt. Häufig führt ihr Weg stattdessen in eine Erwerbsunfähigkeit, in eine Frührente oder in die Arbeit in einer Werkstatt für behinderte Menschen.

Wir von autismusspektrum.info möchten deshalb in diesem Beitrag das Thema genauer betrachten. Dazu hat Tom Harrendorf nachgefragt bei Experte Michael Schmitz von SALO+PARTNER, die Jobcoaching und Arbeitsvermittlung für Autistinnen und Autisten anbieten, welche konkreten Probleme Autisten im Arbeitsleben haben und wie sie trotzdem auf dem Arbeitsmarkt Fuß fassen können.

Tom Harrendorf: Hallo Herr Schmitz, in Ihrer Arbeit unterstützen Sie Menschen mit gesundheitlichen Einschränkungen dabei, ins Berufsleben zu finden bzw. wieder zurückzufinden – unter anderem Autisten. Dabei ist Ihnen aufgefallen, dass insbesondere autistische Menschen wiederkehrende Probleme haben, auf dem ersten Arbeitsmarkt Fuß zu fassen. Welche Schwierigkeiten sind das genau?

Michael Schmitz: Die Probleme unterscheiden sich in den Altersgruppen. Daher möchte ich das trennen. Die erste Gruppe besteht aus jungen Menschen, die aus der Schule kommen und in das Berufsleben einsteigen möchten. Die zweite Gruppe umfasst Menschen, die entweder spät diagnostiziert sind oder erst im späteren Alter Unterstützung benötigen. Ein älterer Mensch kennt sein Bedürfnis in Bezug auf Arbeit bereits. Ein junger Mensch hingegen weiß vom Berufsleben noch nichts. Sie kennen bisher nur die Struktur der Schule. Plötzlich ist alles völlig anders. Für jüngere Menschen bieten wir und andere Träger deshalb eine sogenannte BVB an, das heißt berufsvorbereitende Bildungsmaßnahme. Das sind Maßnahmen, mit denen die Teilnehmer herausfinden können, in welche berufliche Richtung es gehen kann.

Ein Problem, das einen Großteil der – wenn nicht sogar alle – Autisten betrifft, ist das Thema Kommunikation. Damit meine ich das Deuten von ironischen Aussagen, das Erkennen von Mimik und Gestik und das Herstellen einer Kommunikationsstruktur zwischen dem Arbeitgeber und dem autistischen Arbeitnehmer. Darüber hinaus spielen auch Reizempfindlichkeiten wie Geräusche und Gerüche eine wichtige Rolle. Das ist aber gerade jüngeren Menschen häufig gar nicht bewusst. Wir haben mal eine junge Frau betreut, die ganz enttäuscht war, dass sie von ihrem Arbeitgeber entlassen worden ist. Sie hat uns dann ihren Arbeitsplatz beschrieben: In ihrem Büro war immer richtig viel los. Mal kam der Hausmeister rein, mal Pädagogen, Psychologen und andere Mitarbeiter. Sie empfand das als aufregend und spaßig, kam aber mit ihren Aufgaben nicht mehr hinterher. Schließlich ist sie deshalb entlassen worden. Sie selbst hat diese Unruhe in ihrem Büro gar nicht als so störend wahrgenommen. Unsere Aufgabe ist es daher auch, zu erkennen, wo die Unterstützung für den jeweiligen Teilnehmer notwendig ist.

Tom Harrendorf: Ihr Beispiel bestätigt meine Erfahrung aus den Selbsthilfegruppen, dass gerade das soziale Miteinander in Betrieben unterschätzt wird. Ich habe selbst mal eine Ausbildung im Einzelhandel angefangen. Die Arbeit bedeutet, nicht nur die Kunden gut zu beraten und Sachen zu verkaufen. Du musst auch mit deinen Kollegen das soziale Miteinander bewältigen. Wenn das nicht gelingt, wird man im schlimmsten Fall zum Mobbingopfer. Zum Ärger vieler Autisten ist dieses Soziale manchmal sogar wichtiger als die eigentliche Kompetenz bzw. Arbeitsleistung.

Michael Schmitz: Das ist auch genau das, wofür wir dann da sind: zu klären, wie kommt es zu solchen Mobbingsituationen, wie kann man diese umgehen? Was heißt Smalltalk, was heißt Pausengestaltung? Und auch: Wie offen gehe ich mit dem Thema Autismus um? Je offener mit der Diagnose umgegangen und der individuelle Autismus erläutert wird, umso besser ist es und man vermeidet sofort Mobbingsituationen.

Tom Harrendorf: Das Thema Outing ist ein ganz häufiges Thema, das auch bei mir in der Selbsthilfegruppe immer wieder aufgetaucht. Soll ich mich outen, wann ist das sinnvoll und soll ich das vielleicht sogar schon in die Bewerbung schreiben? Oder wird die Bewerbung dann sofort in den Papierkorb entsorgt? Grundsätzlich sage ich immer, wenn es sowieso offensichtlich ist, dann sollte man sich auf jeden Fall outen. Dann gibt es Leute, die befinden sich in einem Grenzbereich und kommen relativ gut klar. Da muss man sich das natürlich gut

überlegen. Das Problem ist, dass man nach einem Outing von dem gesamten Kollegium durch diese Autismus-Brille gesehen wird. Dann ist man in einer Schublade drin und wird eventuell sogar autistischer behandelt als man ist. Sollte man den Autismus im Bewerbungsgespräch erwähnen?

Michael Schmitz: Die Frage ist, an welcher Stelle oder Phase des Vorstellungsgesprächs oder der Bewerbungsphase man offen mit seiner Diagnose umgehen sollte. Es ist in jeder Firma anders, weil man auch schauen muss: Was ist das für ein Betrieb? Wie groß ist er? Hat er einen Behindertenbeauftragten? Passt die Stellenausschreibung zu einem Autisten oder nur teilweise? Wir begleiten Menschen, die selten eine klassische Stellenausschreibung zu hundert Prozent bedienen können. Aber sie können einen Teil davon. Dann kann man mit dem Betrieb ins Gespräch gehen und schauen, welche Fähigkeiten der Bewerber besitzt und welche er sich aneignen kann.

Tom Harrendorf: Es macht ja wahrscheinlich auch einen großen Unterschied, ob der Arbeitgeber schon ein Vorwissen hat über das Autismus-Spektrum. Das mag in bestimmten Berufsbranchen tatsächlich so sein. In der Informatikbranche arbeiten beispielsweise tatsächlich relativ viele Autisten. Das muss aber natürlich in der Autowerkstatt oder auf der Baustelle nicht unbedingt der Fall sein.

Was mich jetzt interessieren würde: Arbeitslosigkeit und Autismus sind ein großes Thema. Ich habe letztens gelesen, dass bis zu 90 Prozent aller Menschen im Spektrum arbeitslos sind. Viele Betroffene sehnen sich förmlich sogar nach der Erwerbsunfähigkeit, weil sie den

Arbeitsmarkt nicht mehr ertragen und haben dann irgendwann nach ein paar Jahren das Problem, dass sie ohne Arbeit auch nicht leben können oder möchten. Daher meine Frage: Was bedeutet es für Betroffene, arbeitslos zu sein?

Michael Schmitz: Was es für eine Bedeutung für den einzelnen Menschen hat, ist natürlich von seinem Status abhängig. Wenn ein Mensch arbeitslos ist, steht er dem Arbeitsmarkt zur Verfügung. Das heißt, er ist Arbeit suchend und findet möglicherweise keinen Arbeitsplatz, was frustrierend für ihn ist. Dafür gibt es dann solche Angebote wie unseres, wir können unterstützen. Für viele Autisten ist es so, dass sie ihren Anteil für die Gesellschaft bringen wollen, sie möchten teilhaben und für die Gesellschaft etwas tun.

Das andere ist, wenn Betroffene dem Arbeitsmarkt nicht mehr zur Verfügung stehen. Dann sind sie aus dem Arbeitsmarkt ausgesteuert worden und es gibt auch keine Unterstützung mehr, um in den Arbeitsmarkt zurückzukehren. Und wieder zurückzukehren ist extrem schwer aus zwei Gründen: Zum einen muss man dann die Kostenträger davon überzeugen, dass man wieder arbeitsfähig ist. Neue Gutachten müssen erstellt werden, um wieder den Status der Arbeitsfähigkeit und Unterstützung zu bekommen. Natürlich können sie auch aus der Arbeitsunfähigkeit heraus irgendwo einen Job finden und arbeiten. Das können sie immer machen, schließlich sind sie ein freier Mensch. Aber das funktioniert meistens nicht. Denn wer mehrere Jahre lang zu Hause gewesen ist, hält den Druck des Arbeitsmarktes oft nicht Stand.

Tom Harrendorf: Viele Betroffen sind ja auch in einer Werkstatt für behinderte Menschen. Gerade schwerstbehinderte Autisten bekommen da natürlich eine Tagesstruktur und soziale Kontakte. Doch insbesondere für hochfunktionale Autisten ist häufig die Werkstatt für behinderte Menschen nicht die beste Option. Sie fühlen sich ausgebeutet oder werden sogar von den eigenen Arbeitskollegen gemobbt. Wie sehen Sie das? Ist eine Werkstatt für behinderte Menschen ein Sprungbrett für die Karriere? Wie ist die Vermittlungsquote auf den ersten Arbeitsmarkt?

Michael Schmitz: Bei einer Fortbildung zum Thema Inklusion vor ein paar Jahren erzählte ein Dozent aus dem Bundesfamilienministerium, dass die Vermittlungsquote von der Werkstatt für behinderte Menschen auf den ersten Arbeitsmarkt bei gerundet 0 liegen würde.

Aber ehrlicherweise ist das nicht mein Fachthema. Wir kümmern uns um den ersten Arbeitsmarkt. Ich habe allerdings oft Teilnehmer getroffen, die über mehrere Jahre in der Werkstatt für behinderte Menschen beschäftigt waren, obwohl sie da eigentlich falsch waren. Das empfinde ich als echtes Drama. Letztens betreuten wir eine Teilnehmerin, die

fünf Jahre in einer Werkstatt gearbeitet hat und eigentlich sehr intelligent war. Über uns hat sie dann schließlich eine Ausbildung zur Industriekauffrau gemacht. Wir hatten auch den Fall, dass eine andere Frau schon mehr als 30 Jahre in einer Werkstatt gearbeitet hat und sich in dieser Zeit sehr viele Verhaltensweisen von ihren Arbeitskollegen abgeguckt hatte. Das heißt der Frau tropfte zum Beispiel der Speichel aus dem Mund.

Ich würde – bevor der Weg in eine Werkstatt für behinderte Menschen geht – ganz viel anderes probieren. Gerade bei Menschen mit Autismus gibt es ganz häufig eine verzögerte

Entwicklung. Das heißt, was mit 20 Jahren nicht geht, kann mit 22 funktionieren. Da muss man dann einfach häufiger genau hinschauen.

Tom Harrendorf: Ihre Arbeit besteht daraus, Menschen mit Behinderungen, psychischen Krankheiten und neurologischen Erkrankungen, insbesondere Autismus, zu vermitteln. Wie läuft so eine Vermittlung bei SALO genau ab? Was können Sie für die Betroffenen tun?

Michael Schmitz: Also es gibt diesen schönen Spruch: Kennst du einen Autisten, dann kennst du genau diesen Autisten und nicht alle Autisten. Dieser Spruch hat einen ganz wichtigen, ernsten Kern. Nämlich die Probleme, die jemand hat, sind immer anders. Wir schauen uns also in erster Linie den Menschen, ihre Geschichte und die beruflichen Wünsche an. Die sind – das habe ich ja zu Anfang schon erläutert – bei jungen und älteren Menschen sehr unterschiedlich. Dann finden wir heraus, in welche berufliche Richtung es für sie gehen kann.

Wir gehen individuell darauf ein, ob der Betroffene noch keinen Beruf hat, ob er schon eine Ausbildung abgeschlossen hat oder ob er ein langes Berufsleben hinter sich hat und jetzt feststellt, dass das nicht das Richtige für ihn ist. Dann verfassen wir zusammen mit dem Teilnehmer eine entsprechende Bewerbung und gehen auf potenzielle Arbeitgeber zu. Jedes Mal stellt sich die Frage: Bewirbt sich der Teilnehmer mit einer klassischen Bewerbung oder nehmen wir direkt Kontakt zum Arbeitgeber auf? Möchte der Teilnehmer selbst das Vorstellungsgespräch führen, ohne dass der Arbeitgeber auf das Thema Autismus vorbereitet ist? Oder, was meist sinnvoller ist, erläutern wir die Bedürfnisse des Teilnehmers im Vorfeld und zeigen dem Arbeitgeber möglicherweise bereits die Fördermöglichkeiten auf? Wir können den Teilnehmer zum Vorstellungsgespräch begleiten, oder auch nicht. Ganz so, wie er das wünscht.

Als Fachleute für Kommunikation sind wir für die Vermittlung zwischen Teilnehmer und Arbeitgeber zuständig. War das Vorstellungsgespräch erfolgreich, begleiten wir den Menschen auch nach der Arbeitsaufnahme. Das ist ein ganz wichtiger Schritt, denn damit verändert sich ja auch der Tagesrhythmus. Wir haben auch die Möglichkeit, die Teilnehmer während einer Ausbildung auf dem ersten Arbeitsmarkt über drei Jahre zu begleiten, was ganz super ist. Sobald alles funktioniert, ziehen wir uns zurück. Bei Bedarf kümmern wir uns auch um Probleme, die zu den Rahmenbedingungen der Arbeit gehören: Beispielsweise die Wohnsituation oder soziales Kompetenztraining. Manchmal unterstützen wir, indem wir ein ambulant betreutes Wohnen, Therapien oder weitere Unterstützung organisieren.

Tom Harrendorf: Von Herzen vielen Dank für das Gespräch!

Michael Schmitz: Es hat mir viel Spaß gemacht!

Tom Harrendorf ist diagnostizierter Asperger-Autist, Selbsthilfegruppenleiter, selbstständiger Berater und Gründer der Seite autismusspektrum.info. Er veröffentlicht seit 2018 regelmäßig Podcasts und Fachbeiträge zu den Themen Autismus, Borderline und anderen psychologischen Themen. Auf YouTube und anderen Kanälen begeistert er damit aktuell 40.000 Abonnenten.

Michael Schmitz ist Leiter in der SALO Niederlassung Hannover. SALO+PARTNER ist ein bundeweit tätiger Träger für berufliche Bildung. Ziel der Unternehmensgruppe ist es, Menschen mit gesundheitlichen Einschränkungen wieder eine Teilhabe am beruflichen Leben und damit am gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen. Unter anderem unterstützen sie Menschen mit einer Autismus-Spektrum-Störung, aber auch Menschen mit Behinderungen, psychischen sowie neurologischen Erkrankungen. Privat ist Michael Schmitz auch Herausgeber und Verleger von Büchern zum Thema Autismus.



Erstveröffentlichung 01.02.2022: www.autismusspektrum.info

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