Es gibt inzwischen viel guten Content zum Thema Autismus. Zum Glück! Auf einen Podcast möchten wir euch heute hinweisen und Geschmack machen – auf „Authentisch Autistisch“ von der wunderbaren Janina Jörgens. Hier im Blog veröffentlichen wir ein Interview, das wir mit ihr geführt haben und in dem sie zum Beispiel erzählt, wie sie Menschen im autistischen Spektrum bezeichnet, was die größten Mythen über Autisten sind und warum der Begriff „Autismustherapie“ unglücklich ist. Aber lest selbst…
• Was machen Sie beruflich?
Ich bin Dipl. Heilpädagogin und habe eine Weiterbildung zum personal Coach/ psycholog. Lebensberatung gemacht. Ich habe 20 Jahre lang in meiner eigenen, großen logopädischen Praxis gearbeitet. Meine Schwerpunkte lagen hier immer im Bereich der (noch) nichtsprechenden Menschen und Menschen aus dem Autismusspektrum. Daneben habe ich Fortbildungen für Lehrer/Innen, Erzieher/Innen etc. gegeben.
Seit 2020 arbeite ich als Autismustherapeutin, da mir die Rahmenbedingungen in der Sprachtherapie in Bezug auf mein autistisches Klientel schlichtweg zu eng waren.
Seitdem biete ich über „authentisch autistisch“ Online-Therapien sowie Online-Coachings für Kinder, Jugendliche und Erwachsene Autist/Innen an, entwickle Online-Kurse, biete einen Online-Stammtisch an, entwickle Therapie- und ArbeitsMaterial und betreiben einen Podcast. Meine Kollegin, selbst spät diagnostizierte Autistin, Melanie Kauderer übernimmt den gesamten technischen Hintergrund wie erstellen und hosten der Website, das „Online-bringen“ der Inhalte, etc.
• Wie sind Sie eigentlich auf das Thema Autismus gestoßen?
Ich habe zu den autistischen Patient/Innen bereits in der sprachtherapeutischen Praxis immer einen außergewöhnlich guten und leichten Zugang gebaut, was ich mir selbst lange Zeit gar nicht recht erklären konnte.
Bereits im Studium fand ich das weite Feld der Autismusspektrumsstörung äußerst faszinierend.
Doch mehr zu den möglichen Zusammenhängen im nächsten Punkt:
• Beschäftigt Sie das Thema Autismus mehr privat oder mehr beruflich?
Beides. 😉
Ich selbst bin neurodivergent. Hochsensibel ohne Frage. Auch die Hinweise für eine mögliche Autismus- sowie ADHS-Diagnose sind deutlich.
Warum ich bislang auf eine Diagnose verzichtet habe?
Tatsächlich bin ich ein Fan von Kosten-Nutzen-Rechnungen. Und hier ist mir aktuell eine Diagnosestellung zu aufwändig.
Als bereits erwachsene Frau, die ihr Leben lang äußerst gut maskiert hat (sich daher auch der Schattenseiten leider deutlich bewußt ist) und seit über 25 Jahren in der therapeutischen Begleitung autistischen Menschen und ihrer Angehörigen arbeitet… Wer würde sich trauen, hier eine Diagnose zu stellen? 😉
Viele der Hürden, Herausforderungen und Bedarfe meiner Klient/Innen kenne ich jedoch aus eigener Erfahrung, noch viel mehr aus der Erfahrung der langjährigen Arbeit, was meine Arbeit sehr bereichert und an vielen Stellen auch vereinfacht. Meine Klient/Innen müssen mir oftmals keine Erklärungen liefern…
- Was schätzen Sie an autistischen Mitmenschen besonders?
Wir verstehen uns oft auf einer unausgesprochenen Ebene viel direkter, als „man“ es im Umgang mit sogenannten „neurotypischen“ Menschen gewohnt ist.
Ich schätze die Ehrlichkeit, die „Echtheit“, die Sachlichkeit, die Logik, die Pünktlichkeit, die Kreativität, die Begeisterungsfähigkeit, die Selbstreflexionsfähigkeiten und so vieles mehr.
Es ist großartig mit Menschen zu arbeiten, die ein ähnlich „anderes“ Nervensystem haben, gemeinsam auf die Suche nach hilfreichen Alternativen zu gehen, Visionen zu entwickeln und an ihnen zu arbeiten.
• Sie arbeiten mit autistischen Menschen. Sie versuchen ihnen durch therapeutische Ansätze zu helfen. Sie können also viel von Ihnen lernen. Was lernen Sie umgekehrt von Menschen im autistischen Spektrum?
Jeder Tag ist spannend, denn es wird in meiner Arbeit nie langweilig.
Wer sich auf autistische Menschen einlassen kann, entdeckt die Welt jeden Tag neu!
Eine kleine Anekdote: Einer meiner Klienten (10 Jahre), kam zur Therapiestunde (damals noch in der Sprachtherapie). Ich hatte leider noch ein Telefonat und bat ihn, schon einmal Platz zu nehmen und kurz zu warten, ich sei gleich für ihn da. Er wartete äußerst geduldig das Ende des Gespräches ab. Ich beendete das Telefonat, legte den Hörer weg, dankte ihm für seine Geduld, schaute auf den hohen, unbearbeiteten Aktenstapel neben mir, seufzte und sagte: „Das muss jetzt einfach noch warten! Jetzt bist erst mal du dran!“ Er schaute mich an und fragte: „Musst du das denn alles alleine machen!?“
Er ahnte gar nicht, wie sehr er damit „ins Schwarze“ traf!
Ich musste mich erst einmal sammeln, denn die Erkenntnis, dass man eben nicht alles allein machen muss, traf mich wie ein Schlag. Nach unserer gemeinsamen Stunde begann ich sofort mit dem Sortieren und Delegieren verschiedener Aufgaben.
Ich lerne jeden Tag!
Die größten „Learnings“ bislang:
– Weniger ist mehr.
– „Man tut“ und „Man macht“ muss nicht immer richtig sein.
• Was begeistert Sie an der Arbeit mit Autisten?
Die Tiefe der Gespräche.
Die Begeisterung, wenn passende Lösungen gefunden werden können.
Das Staunen, wenn mein Gegenüber merkt, dass er/sie wirklich verstanden und nicht verurteilt wird.
• Wie nennen Sie Autisten? Hat die Person Autismus? Oder ist jemand autistisch/Autist?
Die Bezeichnungen haben alle ihre „Für´s“ und „Wider´s“… Wenn es sich ergibt frage ich nach und bemühe mich dann die Bezeichnung zu nutzen, die der-/diejenige dann bevorzugt.
Tatsächlich kann dies auch ein ganz toller therapeutischer Inhalt auf dem Weg der Selbstakzeptanz sein, sich hierüber gemeinsam Gedanken zu machen.
„Person first“ oder „Identity first“ oder auch ganz andere Varianten sollte jede/r für sich entscheiden dürfen.
Einige meiner Klienten bevorzugen auch die Bezeichnung „neurodivergent“ – auch hier sind die Begründungen sehr unterschiedlich.
• Inklusion ist ein großes Schlagwort der letzten 15 Jahre. Wo sind wir im Umgang mit Autisten besser geworden? Wo noch nicht? Was sind unsere Herausforderungen? Was würden Sie „der Gesellschaft“ ins Hausaufgabenheft schreiben, damit Menschen im autistischen Spektrum sich wohler im Alltag fühlen können?
Ohaaaa! Eine große Frage mit einem riesigen Potential! Mit der Beantwortung könnte ich Bücher schreiben! 😉
Immerhin werden die Themen „Autismus“ und „ADHS“ immer „normaler“… Z.B. gibt es mittlerweile viele Filme und Serien mit Charakteren, welche eben diese Diagnosen darstellen (sollen). Dies gelingt mal mehr und mal weniger gut, manchmal bleiben die Darstellungen sehr in Stereotypen hängen. Aber da jeder Autist anders ist, wie eben jeder Mensch anders ist, ist EINE Darstellung eben auch immer nur EINE Darstellung. Nicht umsonst heißt es „Autismusspektrum“ und das ist ein sehr großes und variantenreiches Feld!
Die Diagnosekriterien werden besser, der Zugang zu Diagnosen, welche dann wiederum Hilfen möglich machen, wird leichter. Die Wartelisten sind jedoch gnadenlos überfüllt, die der Diagnostikstellen ebenso wie die der Hilfen…
Schule ist meist das Hauptthema in den Anfragen bei Coachings und auch in der Bearbeitung in den Therapien. Unser Schulsystem ist absolut nicht auf neurodivergente Menschen ausgelegt. Da wir hier in Deutschland allerdings die Schulpflicht haben, ist Schule unausweichlich. Hier müssen viele Dinge neu gedacht werden. Und tatsächlich würden vermutlich alle Kinder – auch die neurotypischen- von solchen Neustrukturierungen profitieren!
Unserer Gesellschaft mangelt es leider oftmals sehr an Empathie, Akzeptanz und Geduld.
Mit der Empathie, sich in Menschen hineinfühlen zu können, der Akzeptanz, auch andere Wahrnehmungsarten annehmen zu können und der Geduld, passende, individuelle Wege zu finden, bzw. Entwicklungsschritte dann anzugehen, wenn sie möglich sind, wäre schon viel geholfen!
• Was ist Ihrer Meinung nach der größte „Mythos“, was das größte Vorurteil über Autisten?
Oh – auch da gibt es so viele „Mythen“ und veraltete Vorstellungen…
Ich nenne mal meine Top-3 auf der Liste…
– Autisten schauen keinem in die Augen.
– Autisten wollen keine Freunde oder Partnerschaften haben.
– Autisten sind gut in Informatik und Mathe.
• Diagnose: Ja oder Nein?
Eine Diagnose ist ein ganz klares „Kann“. 😉
In Deutschland „brauchen“ wir eine Diagnose, damit Hilfen möglich werden… Eigentlich traurig. Ohne Diagnose können Hilfen wie eine Schulassistenz oder auch Therapien nicht abgerufen werden. Auch kann eine Diagnose Hilfen ermöglichen wie einen Nachteilsausgleich in der Schule oder auch Anpassungen im Beruf, wie z.B. ein besonderer Kündigungsschutz, mehr Urlaubstage, etc.
Auch kann z.B. eine späte Diagnose helfen bei der Selbstakzeptanz. Viele spät diagnostizierte Menschen erfahren die Diagnose als Erleichterung. Eine Diagnose kann das gesamte bisherige (Er-)Leben erklären helfen.
• Was heißt Fortschritt in der therapeutischen Arbeit mit Menschen im autistischen Spektrum, wenn die Diagnose doch für das ganze Leben gilt?
Ich finde den Begriff „Autismustherapie“ selbst tatsächlich ausgesprochen unglücklich. Ich bezeichne mich selbst daher eher als „therapeutische Begleitung für autistische Menschen und ihre Systeme“.
„Therapie“ suggeriert, dass dadurch etwas „verschwinden“ kann.
Autismus ist eine „lebenslange“ Diagnose. Die besondere Arbeitsweise des Nervensystems bleibt.
Was aber in Therapien erreicht werden kann ist eine eigene Akzeptanz der Diagnose, das Auffinden von möglichen Bedarfen und ein gemeinsames Finden von hilfreichen Alternativen. Es ist wichtig, gemeinsam zu erarbeiten, wo die eigenen Grenzen liegen, wie man diese erkennen und benennen kann und wie man (sich selbst) helfen kann.
Wenn ich weiß, wie mein Nervensystem funktioniert, welche Bereiche mich vielleicht schneller stressen, wie ich gut für mich sorgen kann, dann wird vieles deutlich leichter!
• Haben Sie eine Lieblingsmethode, die Sie im therapeutischen Kontext anwenden, weil sie z.B. bestimmte Erfahrungsräume für die Teilnehmenden öffnet?
Ich arbeite immer „multimodal“, d.h. ich füge verschiedene Methoden zusammen, so wie es im jeweiligen Fall individuell am zielführendsten ist. Visualisierungen haben sich als eine oftmals äußerst hilfreiche Methode erwiesen. Egal, ob räumliche Strukturierung erreicht werden soll (bspw. „Ordnung und Übersicht auf dem eigenen Schreibtisch“) oder zeitliche Übersicht. Auch emotionale Inhalte können gut visualisiert und so viel besser bearbeitet werden.
Ich arbeite gern „nebenbei“, biete also verschiedene Tätigkeiten an, die wir gemeinsam durchführen und „nebenbei“ unterhalten wir uns. So ergeben sich oft die tiefsten Gespräche – gerade weil man „offiziell“ etwas anderes zu tun hat… Das können je nach Vorlieben kreative Inhalte sein oder auch solche Aktivitäten wie kochen oder backen, sogar Sport.
Immer stehen die Ziele der/s Klient/In im Vordergrund.
Methoden wie z.B. ABA lehne ich ab. Es gibt an Menschen mit Autismus nichts zu verändern oder zu verbessern. Neben der Selbsterkenntnis sind es oft eher die umgebenden Strukturen, die sich ändern müssen. Daher arbeite ich oftmals auch sehr viel mit den Familien, den Eltern, Geschwistern, Großeltern oder auch Lehrer/Innen, Erzieher/Innen, Chef/Innen…
Interesse geweckt? Dann hören Sie gern einmal in den Podcast „Authentisch Autistisch“ rein.
Spannend! Danke für den Beitrag! ☺️
Vielen Dank für Deine Rückmeldung. Das ist uns sehr wichtig, damit wir uns weiterentwickeln können.
Vielleicht möchtest Du auch einmal in den Podcast „authentisch autistisch“ hineinhören und empfiehlst unseren
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